Lesefieber im Dorf: der Anfang einer Emanzipation
„Wie hast du dich gefühlt, als du das erste Mal deinen Namen schreiben konntest?“ Ich habe einigen diese Frage gestellt, als ich von Memorys Geschichte erfuhr, aber ich konnte sie für mich selbst kaum beantworten. Es ist zu lange her. Ich erinnere mich nur daran, dass man mich im ersten Schuljahr nicht dazu überreden musste, das Lesen und Schreiben zu üben. Buchstaben empfand ich als interessante Gestalten, abendliche Märchenstunden als Türöffner in unbekannte Welten.
Bei Memory Meja liegt der besondere Moment erst einige Monate zurück. Ihre Erinnerung an die Eroberung der Buchstaben ist noch ganz frisch. „Es war ein unbeschreiblich glücklicher Tag“, erzählte die 28jährige Bäuerin aus Malawi meinem Kollegen Charles Kabena (der übrigens ein ehemaliges World Vision-Patenkind ist) an einem trockenen Novembertag vor ihrem grau gestrichenen Lehmhaus. Ein Tag des Sieges über das Gefühl, nicht viel aus dem eigenen Leben machen zu können, nicht weit aus dem Schatten der gewohnten vier Wände treten zu können.
Bildung war etwas für Jungen, nicht für Mädchen
Bildung war nach gängiger Vorstellung nur etwas für Jungen, als Memory ein Schulkind war. Mädchen gehörten in die Küche. So kümmerte sich niemand darum, ob sie etwas lernte. Im Dorf konnte man auch nicht eben mal eine Lesefiebel im Laden kaufen, und so blieb das Alphabet für sie ein unknackbares Rätsel. Die Schuluniform wurde bald an den Haken gehängt und durch die Schürze ersetzt. Das stempelte Memory zwar nicht zur Versagerin, denn in Malawi sind auch heute noch rund 40 Prozent der erwachsenen Frauen Analphabetinnen. Ohne Schulabschluss oder andere Ausbildung hatte Memory jedoch kaum Wahlmöglichkeiten. Sie heiratete sehr früh und verbrachte bisher ihre Jahre damit, auf dem weniger als ein Hektar großen Garten ihres Mannes Mais, Erdnüsse und andere Nahrung anzubauen.
Nachdem sie bereits zwei Kinder geboren hatte, übernahm Memory vor rund 5 Jahren noch das Sorgerecht für ihre Nichte Ndaziona, damals 8 Jahre alt. „Jemand hatte meiner Schwester einen Job als Hausmädchen in der Stadt verschafft, und wir dachten, dass es schwierig für sie sein würde, ihr Kind mit zu nehmen“, erklärt sie. Dass diese Pflegetochter einmal ihre Lehrerin werden würde, habe sie nicht geahnt. Als fleißig in der Schule und trotzdem noch sehr verspielt erlebte Memory ihre Nichte bis letztes Jahr.
Dorfbibliothek weckt Lesefieber der Mädchen
Die Dorfgemeinschaft hatte im April 2018 mit Unterstützung von World Vision für die Kinder eine kleine Dorfbibliothek und (zum Schutz vor Regen oder zuviel Sonne) einen einfachen Leseraum eingerichtet. Seitdem laden drei ehrenamtliche Lesehelfer unter Leitung des Mitarbeiters Christopher M'dzuma in diesem sogenannten „Lesecamp“ über 60 Kinder nachmittags mit spielerischem Ansatz zum gemeinsamen Entdecken von Geschichten und anderen Lesemateralien ein Die Grundschule der Kommune, die von Kindern aus 11 umliegenden Dörfern besucht wird, kooperiert mit dem Lesecamp. Und dann geschah etwas Unerwartetes: Nichte Nzdaziona packte das Lesefieber.
Als Mutter fördert Memory den Wissensdurst ihrer Tochter
„Ich habe bemerkt, dass Ndaziona nach der Schule zuhause nur schnell etwas aß und dann gleich ins Lesecamp eilte“, erzählt Memory schmunzelnd und fügt hinzu, dass ihr nicht in den Sinn gekommen sei, Ndaziona davon abzuhalten. Es seid doch gut, dass ihr Mädchen sich dem Lernen verschrieben hatte. „Und wenn sie aus dem Lesecamp zurück kam, machte sie den Abwasch und kehrte zu ihrer Lektüre zurück.“ Besonders die stillen Solo-Lesemomente ihrer Pflegetochter – manchmal unterbrochen von lautem Vorlesen einiger Textpassagen – weckten Memorys Neugier. Eines Abends bat sie ihre Tochter, ihr das Lesen und Schreiben beizubringen. Und das war der Anfang von etwas Besonderem.
„Ich war glücklich, als Mutter mich bat, sie zu unterrichten", sagt Ndaziona lächelnd, während sie ein Buch durchblättert, das sie aus dem Fundus des Lesecamps ausgeliehen hat. Sie sucht nach einer passenden Geschichte, die sie mit ihrer Pflegemutter am Nachmittag lesen kann. Wie immer werden sie mit dem lauten Aufsagen von Vokalen und Silben anfangen. Memory möchte viele Wörter lernen, damit sie ihren Wortschatz erweitern kann.
Bildung bringt Frauen gemeinsam voran
Ein gutes Übungsfeld für die Praxis ist die Spargruppe Chiyanjano, in der Memory gemeinsam mit befreundeten Frauen Kapital für Investitionen und Notfall-Rücklagen anlegt. Sie verliest die Namen von Personen in der Anwesenheitsliste während ihrer Sparkassensitzung und hilft bei Berichten. Kürzlich wurde sie sogar zur Sekretärin ernannt. "Ich fühle mich von der Gruppe geschätzt", sagt Memory.
In der Vergangenheit habe ich Führungsaufgaben abgelehnt, weil ich nicht lesen und schreiben konnte. Heute lasse ich mich darauf ein, und ich helfe gerne.
Ihren nächsten Schritt hat sie schon gemacht: ihrem Dorf bot sie an ein Landwirtschaftsprojekt zu leiten – angeregt durch "Kalulu akana kukumba chitsime", eine von der Tochter zum Lesen mitgebrachten Geschichte. Darin geht es um einen Hasen, der sich anfangs weigerte, an der Bohrung eines Brunnens mit zu arbeiten, aber schließlich davon profitierte. Ein bisschen über sich selbst lachend, aber auch selbstbewussten Willen zur Nutzung ihrer neuen Chance ausstrahlend, sagt sie: „Ich habe daraus gelernt, dass man durch Zusammenarbeit mit anderen mehr erreichen kann.“
Zum Hintergrund:
Gute Lesefähigkeiten sind ein Schlüssel zu lebenslangem und eigenständigem Lernen. Besonders in ländlichen, armen Regionen mangelt es Kindern oft an anregendem Lesematerial und ermutigender, geschulter Förderung – in der Schule wie auch zuhause. Mit Lesecamps in den Dörfern wird ein entspannter Zugang zum Lesen geschaffen und eine Zusammenarbeit zwischen Eltern und Kindern beim Lernen gefördert. In Malawi besuchen aktuell 124.012 Kinder 1.671 Lesecamps, die von World Vision eingerichtet wurden. Viele sind an Grundschulen angeschlossen.