Malawi: Aus Hunger in die Kinderehe
Langsam und mit Bedacht wählt Anne ihre Worte, als sie ihre Geschichte erzählt: Vom Verlust ihres Mannes und wie sie mit ihren Habseligkeiten und 150 Kilogramm Mais in ihr Heimatdorf zurückgekehrt ist. Doch hier fand sie unbeschreiblichen Hunger und Armut vor. Eine anhaltende Trockenheit, ausgelöst durch El Nino, hatte die Ernten weit über das Gebiet ihres Dorfes hinaus verdorren lassen. Überall in Malawi und im südlichen Afrika leiden die Menschen wegen El Nino Hunger. 6,5 Millionen Menschen brauchen allein in Malawi Unterstützung.
Als sie zurückkehrte, war Anne überrascht, dass ihr Sohn Michael und seine Familie Wassermelonen zum Frühstück, Mittagessen und Abendessen kochten und aßen, während sie normalerweise Mais und Hirse essen. „Es machte mich sehr traurig“, sagt sie. Anstatt als Witwe von der Familie unterstützt zu werden, musste Anne alle versorgen. Aber wie lange würden 150 Kilogramm Mais reichen, wenn davon fast zehn Personen satt werden müssen? „Es war sehr schwer für uns“, erzählt sie.
Die Nahrungsmittelkrise brachte für Anne nicht nur Hunger mit sich, sondern bedrohte auch den Traum ihrer jüngsten Tochter Jessy. Jessy wollte die Schule besuchen und Krankenschwester werden. „Als ich erfuhr, dass Jessy die Aufnahmeprüfungen für die weiterführende Schule bestanden hatte, freute ich mich sehr“, sagt sie lächelnd: „Doch mir setzte auch die Vorstellung, dass ich Schulgebühren, Schuluniformen und Bücher bezahlen müsse, schwer zu.” Jessy sah ihren Traum schwinden und damit die Hoffnung auf eine Zukunft ohne Armut. „Ich wusste, dass ich es mir nicht leisten konnte, die Gebühren zu bezahlen und gleichzeitig jeden Tag für Essen zu sorgen”, sagt Anne. Doch trotz Hunger, Hoffnungslosigkeit und Ungewissheit unterstützte sie ihre Tochter darin, sich auf den Schulwechsel vorzubereiten. Sie sagt, dass Jessy zu ehrgeizig war und zu hart gearbeitet hatte, dass sie zu gut in Mathematik war und in den sozialwissenschaftlichen Fächern.
Dann hatte die Familie den Vorrat an Mais verbraucht und Anne ging Feuerholz sammeln, um Geld zu verdienen. Sie lebten von der Hand in den Mund.
Arnold Tsalayekha, World Vision Mitarbeiter vor Ort weiß, dass in dieser Region, die eine der höchsten Rate an Kinderehen in Malawi hat, die Gefahr groß ist, dass Eltern angesichts der Hungerkatastrophe und der Armut ihre Töchter verheiraten. Nicht etwa um das Lobola, den Brautpreis, zu erhalten, sondern um die Zahl der Angehörigen im Haushalt zu reduzieren und damit das Überleben zu sichern. Etwa die Hälfte der Mädchen hier heiratet, bevor sie 15 Jahre alt sind, einige sogar bereits mit zwölf Jahren.
Doch für Jessy wendete sich das Blatt: World Vision kam mit einem Hilfsprogramm gegen den Hunger ins Dorf. Finanzielle Unterstützung wurde den hungernden Menschen vor Ort zugedacht, um sich Mais, Bohnen und Öl kaufen zu können. Auch Anne nutzte das Geld dafür – aber nur zum Teil. Sie erkannte die neuen Möglichkeiten und bezahlte auch die Hälfte von Jessys Schulgebühren.
„Meine Mutter kaufte mir von dem Geld auch Hefte und Stifte”, erzählt Jessy und berichtet: „Das erste Halbjahr war schwierig für mich und ich war nicht besonders gut.” Ihr Lehrer sagt, dass das vielen Schülern beim Übergang auf die höhere Schule so gehe. An Jessys Schule profitieren beinahe zwei Drittel der 280 Schüler direkt vom Hilfsprogramm durch World Vision gegen den Hunger im Land. Arnold, der das Programm für World Vision vor Ort koordiniert, sagt, dass durch diese Unterstützung die Kinder – und ganz besonders die Mädchen - in der Schule bleiben können: „Mit jeder Nahrungsmittelkrise tritt das Thema Kinderehe wieder in den Vordergrund. Es ist eine große Freude für uns zu sehen, dass durch unsere Arbeit die Mädchen in der Schule bleiben und die Klassen oft voll sind.“
Jessy ist jetzt im zweiten Halbjahr. Mit ihrer blauen Bluse und ihrem braunen Rock macht sie sich für einen weiteren Schultag fertig. Die Schülerin hat mit ihren 17 Jahren den Blick fest auf die Zukunft gerichtet und kommt ihrem Traum, Krankenschwester zu werden, jeden Tag ein Stückchen näher.