Äthiopien: Mit Umweltschutz gegen Fluchtursachen
Die Landschaft raubt einem den Atem. Tiefe Schluchten umrahmt von Felsformationen und Tafelbergen, deren Ränder steil abfallen, wechseln sich ab. Man weiß nicht, wo man zuerst hinschauen soll.
Wir sind mit der Wissenschaftlerin Kira Vinke vom PIK (Potsdam Institut für Klimafolgenforschung) und Günter Nooke, dem Afrika-Beauftragten von Bundeskanzlerin Merkel in Tigray/Nordäthiopien unterwegs, um uns Entwicklungsprojekte von World Vision anzuschauen. Die Projekte werden u.a. von der holländischen Regierung und dem World Agroforestry Center (ICRAF) gefördert.
Tigray gehört zu den trockensten Regionen Äthiopiens. In der Vergangenheit, aber auch aktuell kam und kommt es immer wieder zu katastrophalen Hungersnöten. Die Menschen flohen in andere Länder und Regionen, da sie keine Überlebensmöglichkeiten oder Perspektiven für sich und ihre Kinder sahen. Oft mussten sie hunderte Kilometer laufen, bevor sie eine Gegend erreichten, in denen es zumindest zu essen und zu trinken gab. So schön die Landschaft auch ist - viele Berge und Täler sind völlig ausgetrocknet. Die Luft flimmert über der vertrockneten Erde. Hier und da ragen einzelne Büschel oder kleine Bäumchen aus dem Sand.
Bauer Alem Desta Gebre lebt in einem Tal in einem Distrikt 78 Kilometer nördlich der Regionalhauptstadt Me’kele. „Als junger Mann gab es für mich hier keine Perspektive, daher ging ich nach Saudi-Arabien und arbeitetet dort“, erklärt der 56-Jährige. Nur zwei Bauern lebten damals mit ihren Familien in dem Tal. Für mehr reichten die Ernteerträge nicht. In Saudi-Arabien sparte Gebre etwas Geld und ging zurück in seine Heimat, aber noch immer war sein Leben, das seiner Frau und seiner fünf Kinder von Entbehrungen geprägt. Mit den Erträgen aus der Ernte konnte er seine Familie kaum ernähren. Gefährlich wurde es auch, wenn es in den Sommermonaten zu schweren Regenfällen kam. Oft kam es zu Überflutungen und Erdrutschen. Das wenige an Getreide und Gemüse, das der trockene Boden hergab, wurde manchmal unter den Wassermassen oder den abrutschenden Berghängen begraben. Kühe und Ziegen, die an den Hängen grasten, wurden in den Abgrund gerissen.
Aus Staub und Sand wird fruchtbarer Boden
Im April 2014 begann World Vision mit langfristiger Entwicklungsarbeit in mehreren Regionen Tigrays. Auch in dem Tal, in dem Gebre lebt, wurde die Kinderhilfsorganisation aktiv. Wir klettern die Berghänge in die Schlucht hinab. Unten angekommen, bleiben wir erstaunt stehen. Dort wo vor wenigen Jahren nur ausgedorrter Boden und Sand zu sehen war, wächst heute überall Gras, an den Berghängen sehen wir kleine Bäume. Verschiedene Vogelarten sind in der Ferne zu beobachten, wie sie nach Insekten und Würmern im feuchten Gras suchen.
Etwa 270 große LKW-Ladungen Gras und Heu werden in den Sommermonaten im Tal geerntet und als Viehfutter auf dem Markt verkauft. Ein Laster kann etwa 3.000 Kilogramm Viehfutter transportieren. Die Berghänge werden heute von den Bauern geschützt, so dass keine Ziegen und Rinder die jungen Baumtriebe mehr abgrasen können. Die Methode der regenerativen Wiederaufforstung nennt sich FMNR (farmer managed natural regeneration) und beruht darauf, dass noch vorhandene gesunde Wurzeln von einheimischen Bäumen wieder austreiben können. Die Methode ist preiswert und funktioniert extrem schnell. Der Vorteil ist, dass die in der Region beheimateten und an das Klima angepassten Bäume wieder zurückkommen.
In dem Tal setzt World Vision gemeinsam mit den Bewohnern mehrere Methoden der Wiederbegrünung um. Neben der FMNR Methode wird das Regenwasser systematisch in Auffangbecken umgeleitet. Dämme und Terrassen an den Berghängen sorgen dafür, dass die Fließgeschwindigkeit des Regenwassers gestoppt wird. In kleinen Sammelbecken staut sich das Wasser und kann so in den Boden einsickern. Wertvolle Nährstoffe sammeln sich hinter den Dämmen und in den Auffangbecken. Die wertvolle Erde kann als natürlicher Dünger auf den Äckern genutzt werden. Mit Hilfe von Kanälen und Pumpen wird das Wasser auf die Äcker geleitet und versorgt so verschiedene Gemüsesorten wie Kartoffeln, Möhren, Tomaten oder Kohl mit ausreichend Flüssigkeit.
Grüne Täler ernähren viele Familien
Als wir weitergehen und um die Ecke in das nächste Tal laufen, sehen wir das riesige Auffangbecken und die Wasserkanäle. Saftig grüne Wiesen reichen bis ans Ende des Tals. Trotz der Trockenheit steht das Wasser teilweise so hoch, dass unsere Schuhe nass werden.
Heute nutzen 132 Bauern das Tal für den Anbau von Gras, Getreide oder Gemüse. In der Vergangenheit konnten gerade mal drei Hektar Land genutzt werden, heute sind es 18,5 Hektar. Das Potential in der Zukunft liegt bei 38 Hektar.
Migration ist für Gebre heute kein Thema mehr. „Für mich ist dies jetzt wie Saudi-Arabien“, betont er. „Meine Kinder und ich werden hier nicht mehr weggehen. Es geht uns allen so gut, dass wir hierbleiben können.“
Noch vor 300 bis 400 Jahren war Äthiopien zu etwa 60 Prozent bewaldet. Vor etwa zehn Jahren gab es nur noch etwa drei Prozent Wald. Viel wurde schon erreicht. So soll es inzwischen wieder mehr als zehn Prozent Wald geben.
Die äthiopische Regierung hat sich ein ehrgeiziges Ziel gesetzt. Im Rahmen der Afrika-Initiative AFR100 will das Land 15 Millionen Hektar Land wiederbegrünen. Insgesamt hat sich die Initiative zum Ziel gesetzt, bis 2030 hundert Millionen Hektar degradiertes Land wieder zu begrünen. Beteiligt sind inzwischen 22 afrikanische Länder.
In Tigray gibt es mehr als 2000 Täler und Schluchten, in denen Wiederbegrünung möglich wäre – ein riesiges Potential. Hungersnöte könnten Vergangenheit sein.
Autorin: Silvia Holten