
"Kinder sind die Leidtragenden dieser Krise"
Interview mit Kathryn Tätzsch, die vor Ort unsere Hilfe koordiniert
In vier Ländern rund um den Tschadsee herrscht bittere Not. Geschätzte 10,4 Millionen Menschen in Niger, Tschad, Nigeria und Kamerun benötigen humanitäre Hilfe. Mehr als 500.000 Kinder sind bedrohlich unterernährt, und viele Kinder können nicht mehr zur Schule gehen. Unsere Kollegin Kathryn Tätzsch koordiniert unsere humanitäre Nothilfe vor Ort.

Das Interview zum Nachhören
Wie leben die Menschen in den betroffenen Gebieten?
Zur Zeit ist Winter in der Tschadsee Region, es weht sehr starker Wind - Sand ist überall, Kinder und Jugendliche sind damit beschäftigt, tagtäglich mehrmals weite Strecken zur nächsten Wasserstelle zurückzulegen oder sehr lange Schlange zu stehen, um an das kostbare Gut zu gelangen - oftmals Mädchen, nicht älter als 6-8 Jahre. World Vision ist sehr besorgt, dass Kinder, insbesondere Mädchen leicht Opfer gewaltsamer Übergriffe oder sexuellen Missbrauchs werden. Es gibt eine Zunahme der Früh-Zwangsverheiratung, ich habe von Fällen 10-jähriger Mädchen bestätigt bekommen.
Wie reagieren die Einheimischen auf die Geflüchteten?
Die ohnehin von Klimaveränderung (dramatisch schrumpfende Wasservorkommen des Tschadsees) und Desertifizierung betroffene Gastbevölkerung ist unglaublich geduldig und teil meist die wenigen Ressourcen mit den Vertriebenen, allerdings, wird die Verknappung von Wasser, Weideland, Holz, Zugang zu Infrastruktur (Gesundheit, Schule) und die unsichere langfristige Perspektive (Attacken der militanten Gruppen, kurzfristige Schließung von Märkten aufgrund von Sicherheitsbedenken) weiter möglicherweise zu stärkeren Spannungen zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen führen. Wobei wir auch starke Hilfsbereitschaft gesehen haben - wir trafen z.B. eine von unzähligen Familien in Nguigmi Stadt (ca. 170 Km nördlich von Diffa Stadt, die mehr als 10 Binnenvertriebene aufgenommen haben in ihrem äußerst kleinen Haus und seit 2 Jahren alles - inclusive Nahrung mit ihnen teilen. Dies sind wirkliche Heldinnen und Helden in dieser Krise.
Gleichzeitig ist beeindruckend mit welcher Gleichmut, Geduld und dem absoluten Überlebenswillen diese Menschen, die Familienmitglieder und Freunde auf ihrer Flucht verloren haben, ja oft mitansehen mussten, wie viele vor ihren Augen hingerichtet wurden, nicht nur auf den nächsten Tag hoffen oder auf eine möglich Rückkehr in ihr altes Leben, sondern mit Einfallsreichtum und Zielstrebigkeit, Geld sparen, investieren, Kleinstbetriebe eröffnen, um somit eine Perspektive für die Zukunft zu haben. Ich habe in all meinen Jahren in der humanitären Hilfe in vielen Ländern, selten solch einen Überlebenswillen und positive Einstellung angesichts grausamer Erlebnisse und härtester gegenwärtige Umstände gesehen.


